"In meiner Erinnerung aus den 1980er Jahren war die Rubljovka eine idyllische Landstraße, an der die sowjetische Crème de la crème ihre Datschen von Väterchen Staat zugewiesen bekam. Diese rasante gesellschaftliche Veränderung eines dreißig Kilometer langen Landstrichs war für mich der zündende Funke zur filmischen Erforschung dieses Phänomens. Schon meine erste Recherchereise im Winter 2005 ergab, dass die Glitzerwelt der Neureichen sich hinter Mauern, Panzerglaslimousinen und streng bewachten, abgeriegelten Siedlungen verbirgt. Die zweispurige schmale Straße hat sich in einen Hochsicherheitstrakt verwandelt. (...) Die allgegenwärtige Präsenz von allerlei Bewachungsdiensten wird mit Terrorgefahr gerechtfertigt. Vor siebzehn Jahren hatte ich Russland wegen seines menschenverachtenden Systems verlassen. Unter Jelzin war das Riesenreich auf halbem Wege zur Demokratie, heute ist die Staatsordnung autoritärer als in den letzten Jahrzehnten der Sowjetära." So beschreibt Irene Langemann die Ausgangssituation zu ihrem Dokumentarfilm "Rubljovka - Straße zur Glücksseligkeit".
Rubljovka heißt jene Straße, die das Zentrum Moskaus in westlicher Richtung mit der russischen Provinz verbindet. Ihre Umgebung zog in allen Zeiten die herrschende Elite an: Zaren, Diktatoren, Präsidenten. Auch das heutige Staatsoberhaupt Putin wohnt naturgemäß hier. In Putins Russland ist Rubljovka zum Synonym von Reichtum, gesellschaftlichem Aufschwung und dekadenter Lebensart geworden. Spuren der Vergangenheit und groteske Auswüchse des russischen Kapitalismus bilden hier einen bizarren Mikrokosmos, den es sonst nirgendwo im Riesenreich gibt. Der brisante Film - brisant auch deshalb, weil vieles trotz angeblicher Demokratie im Geheimen gedreht werden musste - zeigt die absurden Schnittstellen zwischen neureicher Glitzerwelt und den verarmten Einheimischen.
Die Filmemacherin Irene Langemann sprach dabei mit beiden dieser Rubljovka-Welten. Im Mittelpunkt aber stehen gewissermaßen die Aussagen eines heranwachsenden Jungen, der sich vor laufender Kamera traut die Demokratie in Russland in Frage zu stellen. Ich traf mich mit der Filmemacherin im Rahmen der Viennale 2007. //
Interview und Text: Manfred Horak
Foto: Besim Mazhiqi, Institut für Migrations- und Aussiedlerfragen
Rubljovka, die Straße zur Glückseligkeit: Interview mit Irene Langemann
von Manfred Horak
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