Da sitzt sie vor ihrem Keyboard und kehrt ihr Innerstes zuvor und weint blutige Tränen und das Publikum weint mit ihr, fühlt sich plötzlich genauso „just blue“ wie die Sängerin. Emotionalisierende Empfindungen lassen unser Zeit-Raum-Gefühl vergessen. Es lebe der Augenblick, der traurige. Der Augenblick: „Ich habe ein bizarres Jahr hinter mir. Ich verlor meinen Mann, das war, als ob mir ein Arm oder der Kopf abgehackt wurde. Und ich wusste, ich würde untergehen, wenn ich mich nicht auf Tournee begebe“. Aber, so Sandy Dillon im Gespräch vor dem letzten Konzert ihrer Tournee in der Szene Wien, „life is keep going on“...
Emotionalisierende Empfindungen wie im richtigen Road-Movie
Ihre Lieder gleichen Road-Movies - Road-Movies, die nie gedreht wurden, sondern während des Schreibprozesses entstanden. Die exzellente Sängerin mit der rauen Blues-Stimme schreibt, wie sie erzählte, „erst zur mehr oder minder fertigen Musik die Texte und ich denk mir auch kein Thema aus. Es ist mehr“, so die Künstlerin weiter, „wie ein Beginn einer Liebesbeziehung – it’s the whole fun part for me“. Der Aufnahmeprozess ist bei ihren Solo-Alben immer der gleiche, so auch für das Album „East Overshoe“ (2001; Virgin): „An die drei Monate brauche ich um die Lieder zu komponieren, arrangieren und aufzunehmen. Ich experimentiere ein wenig herum, nehme aber die Songs in meinem Heim-Studio live auf, ich gehe nicht gerne in ein Studio, das ist, als ob ich zum Arzt gehen muss“. Ihre Lieder sind für sie wie Skelette, die sie live ständig neu bearbeitet, und, wie sie es zu formulieren wusste: „Ich schenke den Songs oft einen neuen Mantel“.
Wie aus Mutated Blues Modern Blues wurde
Auf die Frage, ob sie sich als Storyteller oder eher als Sängerin betrachtet, kam ohne zu zögern „Storyteller“ über ihre Lippen, um aber gleich weiter auszuholen: „Wer ist ein Sänger? Ist Bob Dylan ein Sänger, ist Lou Reed ein Sänger? Ich sage ja, aber sie sind vor allem Storyteller - ... - und große Poeten noch dazu“. Dillon studierte ursprünglich klassisches Klavier und stieg erst später um: „In dieser Zeit dachte ich mir, wenn ich an einem Tisch mit Chopin und Beethoven sitze, und sie fragen mich, was ich all die Jahre machte, hätte ich antworten müssen: Na, euch kopieren! Diese Überlegung bewog mich dann eigene Sachen zu machen und Sängerin zu werden.“ Ein Sandy Dillon-Song klingt im übrigen oft wie ein Song, der sowohl im 19. Jahrhundert geschrieben hätte werden können, aber auch erst zehn Minuten zuvor. „Ja, ich liebe sowohl die alte Musik von Leadbelly und Robert Johnson, wie auch neuere Sachen, Punk zum Beispiel.“ Einige definieren ihre Musik denn auch als „Modern Blues“. Darüber konnte die sympathische Sängerin allerdings nur lachen: „Ja, das hab ich schon öfter gehört, dieser Ausdruck wird mir zugeschrieben, aber ich hab das nie gesagt, „Modern Blues“ klingt ja furchtbar! Ich bezeichnete meine Musik als „Mutated Blues“, und das dürfte jemand falsch verstanden haben...“
Als ob wir Telefonsex hatten
Aber Dillon beschreitet auch gerne neue Wege. Bestes Beispiel dafür die Kollaboration mit dem französischen Komponisten Hector Zazou und deren gemeinsames Werk „12 (Las Vegas is cursed)“ (Ixthuluh), das nicht von ungefähr streckenweise an ein „Lost Album“ von Cptn. Beefheart erinnert: „Oh, das war fantastisch. Wir zwei sind Cptn. Beefheart-Fans, haben uns aber nie getroffen, auch nicht während der Aufnahmen zum Album. Er hat mir seine Ideen gesendet, ich hab ihm meine geschickt, und so ging das hin und her, bis alle Songs fertig waren. Das Aufregende daran war, dass wir uns nie persönlich begegnet sind, erst bei der CD-Präsentation, und bei dieser Begegnung waren wir uns schon so vertraut, also ob wir uns bereits seit 20 Jahren kennen. Die Aufnahmeprozedur war für mich eine ganz neue Erfahrung – und witzig! Manchmal schien es mir, als ob wir Telefonsex hatten, wenn er mich zum Beispiel nachts anrief und in seinem französischen Akzent sagte „Oh, Sandy, on Track Number Two is this or that and this and that“... das hatte schon eine eigene Qualität.“ Die Tracks von "12", die Zazou und Dillon gemeinsam geschrieben haben, taumeln einen fantastischen Tanz zwischen Patti Smith, Tom Waits, Igor Strawinsky, Dr. John, Scott Walker und eben Captain Don Van Vliet. Das ist Avant-Jazz, Independent-Rock, Art-Pop, New Electronica, Soundtrack, oben erwähnter Mutated Blues; alles zugleich, und auch wieder nicht. "What you like best in the whole world?" -- "Money!" -- Why money?" -- To buy records!" Mit diesem kurzen Dialog beginnt dieses Album, und da bleibt nur zu ergänzen: "Records like this!"
Beefheart a la Dillon
Diesem glanzvollen Album steht das ebenbürtige „East Overshoe“ gegenüber. Hammond-Orgel, Dobro, Banjo, Berimbau, Akkordeon, Mandoline, Bouzouki und Gitarren klangen schon lange nicht mehr so zornig, und gleichzeitig schrecklich schön, wie auf diesem Album. Sperrig zunächst öffnen sich die Lieder mit jedem Mal mehr hören und lassen nur Bewunderung zu. Mit Sandy Dillon offenbart sich uns also eine weitere Blind-Buy-Artist, die auch als Live-Künstlerin nicht verpasst werden sollte, denn „Send one Dollar to me“ ist zwar bereits als Studio-Aufnahme ein exzellenter Song, der Schritt zum Gospel-Preacher im Live-Moment übertraf die CD-Version denn doch um einiges, da konnte das Publikum nämlich ihre großartige Kunst auch sehen, nicht nur hören. Ihre Bühnenpräsenz verdichtet jeden Song zusätzlich, egal ob der Song aus ihrer Feder stammt oder ob sie schmerzhaft-brillante Coverversionen vollführt wie Hoagy Carmichaels "Baltimore Oriole" oder als Spezialmenü ein Beefheart a la Dillon ("This is the day") hervorzaubert. Sie lässt sich fallen, um darin zu leben. (Manfred Horak)