Einer der bedeutendsten zeitgenössischen Jazz-Pianisten und Komponisten, zugleich einer der Gründerväter des Jazzrock - Chick Corea - veröffentlicht mit "The Vigil" ein weiteres neues herausragendes Album.
Der Sound fängt dich mit allen Sinnen, und wäre diese eigenwillige Ästhetik in der Cover-Gestaltung, könnte man "The Vigil" [von lateinisch vigilia: Wache, Nachtwache; liturgisch: Stundengebet, aber auch: Totenfeier in der Nacht vor der Beerdigung; Anm.] von Chick Corea als unumschränktes Meisterwerk bezeichnen - so ist es halt "nur" in musikalischer Hinsicht eines. Der mittlerweile 72-jährige umgibt sich auf dem vorliegenden Album mit deutlich jüngeren Musikern, was seinem munter anhaltenden kreativen Schaffensprozess eindeutig zugute kommt. "The Vigil" ist zugleich auch eine Hommage an die Weg weisenden Jazz-Heroen Duke Ellington, Art Tatum, Thelonious Monk, Charlie Parker, Miles Davis, John Coltrane und Roy Haynes. Der 25-jährige Enkel von letzt genannten - Marcus Gilmore - sitzt hinterm Schlagzeug und bildet gemeinsam mit dem französischen Bassisten Hadrien Feraud und dem Gitarristen Charles Altura die Rhythmusgruppe. Heraus kommt dabei etwas ungemein flexibles, agiles, Expressionistisches. Alleine die mehr als viertelstündigen Stücke "Portals to Forever" und "Pledge for Peace" ergäben eine Vinyl-LP, zudem haben die restlichen fünf Stücke eine durchschnittliche Spiellänge von achteinhalb Minuten. Zu hören gibt es also enorm viel. Und so bahnen sich vielschichtige verschlungene Wege durch großräumige Jazz-Atmosphären. Da gibt es z.B. diese eine 11-minütige wunderbare Corea-Komposition "Planet Chia". Dabei handelt es sich nicht um einen Planeten in einem anderen Sonnensystem, sondern um ein Grundnahrungsmittel aus der ursprünglich in Mexiko und Guatemala beheimateten Salbeipflanze mit dem Chia Samen, die bereits von den Mayas, Azteken und Inkas verwendet wurde, und bereits seit über 5000 Jahren bekannt ist. Spurenelemente (vor allem aus Mexiko) finden sich denn auch in diesem geschmackvollen Stück Musik, bei dem man sich eigentlich nicht satt hören kann. Interessant ist auch das kürzeste Stück des Albums, dem 5-minütigen "Outside of Space". Hier betätigt sich Chick Corea als Textlieferant für seine Frau Gayle Moran Corea, frei nach dem Motto: "There are no words to say how outside of space is no place". Und überhaupt: Das Zeitenportal Ewigkeit war Chick Corea ja immer schon einen kreativen Anstoß wert. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft versammeln sich hier in seinem "Portals to Forever". Begegnungen und Entdeckungen, Traumlandschaften und Wandlungen bestimmen die kohärente Suche, nachdem man ein Portal nach dem anderen durchschritten hat. Da stecken dermaßen viele Gefühle und Empfindungen drin, dass sich, während man "Portals to Forever" hört [empfohlen sei eine möglichst gute Anlage; laut aufdrehen oder Kopfhörer; Anm.], der Wunsch aufdrängt, dieses Stück möge doch bitte unaufhaltsam dahin schreiten. Geht freilich nicht, auch wenn uns dies Chick Corea am seltsam anmutenden Album-Cover zu suggerieren versucht, wenn er (Lanzenbewehrt wie Don Quijote) auf einem Pferd entlang des Pferdekopfnebels [eine 3 Lichtjahre große Dunkelwolke im Sternbild Orion, ca. 1500 Lichtjahre von der Erde entfernt; Anm.] reitet. Da halten wir uns doch lieber an die Musik, z.B. an das knackige 17-minütige "Pledge for Peace". Die Inspiration erhielt Chick Corea von John Coltrane, eingespielt wurde es (als einziges auf dem Album) live mit seinen zwei alten Musikerfreunden Stanley Clarke (Bass) und Ravi Coltrane (Saxofon), dem Sohn von John und Alice Coltrane. Ein expressionistisches Mantra, gefüllt von Leidenschaft und dem Drang Langweiligkeiten hinter sich zu lassen. Wow, und wisst ihr was? Diese 17 Minuten vergehen wie im Nu, man ist gepackt von der Frische und der Sensibilität des zu Gehör gebrachten. Wunderschön übrigens auch die zweite konkrete Hommage an einen Jazz-Musiker: "Royalty" ist dem Schlagzeuger Roy Haynes gewidmet [legendär und heute noch empfehlenswert das von Corea, Haynes und dem Bassisten Miroslav Vitouš im Jahr 1968 veröffentlichte Album "Now He Sings, Now He Sobs"; Anm.]. Neun Minuten, das aus der vollen (gemeinsamer musikalischer) Vergangenheit schöpft, um von da in neue Bahnen zu lenken. Großartig, und auch klanglich ein echtes Schmankerl. (Manfred Horak)
CD-Tipp:
Chick Corea: The Vigil
Musik: @@@@@@
Klang: @@@@@@
Label/Vertrieb: Concord/Universal (2013)