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Klett-Cotta (2006)
Novelle, ins Deutsche übertragen von Hans-Ulrich Möhring
Illustrationen: Isabel Klett
91 Seiten
ISBN-10: 3608937293
ISBN-13: 978-3608937299
Raymond Kennedys Novelle Am Rand der Welt erzählt die Geschichte eines alten, einsamen Mannes, Jack, der mitten im verschneiten, nordamerikanischen Nirgendwo alleine mit seinem Hund eine Hütte bewohnt. Er vertreibt sich die Zeit damit, immer wieder dieselbe Geschichte in einer abgegriffenen Zeitung zu lesen. Noch immer kann der vernarrte Mann über die Erzählung lachen, deren Protagonisten seine einzigen Freunde zu sein scheinen. Von Beginn an ist klar, dass der Elfenbeinturm, den sich Jack erschaffen hat, von außen bedroht wird. Wir erfahren, dass sich in letzter Zeit beunruhigende Geschehnisse ereignet haben, in denen sich die Außenwelt Jacks Mikrokosmos unverschämt taktlos genähert hatte. Einmal hielt eine streitende Gruppe von Leuten mit dem Wagen vor seiner Hütte, und ein anderes Mal wurde Jack sogar getreten: "Er hatte Angst. Früher hatte er nie Angst gehabt, erst seit dieser junge Schlägertyp ihn getreten hatte. Das würde er nie vergessen." Als Jack eines Nachts Geräusche von draußen hört, macht er sich vorsichtig, bewaffnet mit einem Hammer, ins Dunkel auf. In einem Graben entdeckt er schließlich einen nackten, zerschundenen Mann namens Dick, den er aufliest und versorgt. Doch als Dick erwacht, erweist er sich alles andere als dankbar. Ein Herr – Knecht-Spiel nimmt seinen Anfang, dem sich der einfache Jack nicht entziehen kann und das bis zu seiner freiwilligen Selbstaufgabe führt. Aggressive Belehrungen des manischen Dick lösen sich immer wieder in einem krassen Humor und Vertraulichkeiten auf, um dann erneut in Zurechtweisungen zu münden. Jack weiß "[…] was ihm gerade passierte, konnte nur einen alten Mann passieren." Erklärungen, was dem verletzten Dick widerfahren war, liefert derselbe nicht, und nach dem er sich Jacks Kleidung genommen hat, will er sich in den Wald aufmachen, um in die Stadt zurück zu kehren. Jack, der dem Herrn schon längst verfallen ist, folgt ihm besorgt in den verschneiten Wald, und nicht einmal, als er Dicks Fußstapfen als seine eigenen identifiziert, kann er sich von dem Trugbild lösen.
Raymond Kennedy, den schon Short Story-Gott Raymond Carver als einen Meistererzähler bezeichnet hatte, thematisiert in Am Rand der Welt mehrere Oppositionen, wie Zivilisation – Land, Bewusstsein – Identität und Realität - Traum. Kennedy spielt mit diesen Gegensätzen und zeigt ihre Unvereinbarkeit in der Angst des alten Jack, der eine unbestimmte Gefahr von draußen zu fürchten scheint. Die Angst dient dem Autor, der die Geschichte nicht zufällig um den Gründonnerstag herum angesiedelt hat, als Vorboten zu Jacks letzten Gang in den Schnee, der, genauso wie seine Angst, nur vermeintlich real, aber letztendlich ein unumgängliches Faktum ist.
Die Personen werden vom Autor unnahbar gezeichnet, und durch ihr groteskes Verhalten sind und bleiben sie undurchsichtig für den Leser. So erfahren wir auch fast nichts über Jack und Dick, denn nicht ihre Geschichten, sondern die Zustände, in denen sie sich befinden, werden aufgearbeitet. Deshalb lebt die Erzählung mehr in der Situation als in der Handlung, ähnlich, wie man es aus dem absurden Theater kennt.
Bereits zwei Romane wurden im Klett-Cotta Verlag von dem 1934 geborenen New Yorker Kennedy, von dem viele Romane auch im Original vergriffen sind, auf deutsch publiziert. Bemerkenswert ist, dass Am Rand der Welt bis jetzt nur in deutscher Übertragung in Buchform vorliegt. So lässt sich bedauernswerter Weise auch kein direkter Übersetzungsvergleich anstellen. Man kann also nur vermuten, dass die Übertragung von Hans-Ulrich Möhring einiges an Authentizität verloren hat, da die vielen Dialoge, die vermutlich stark vom amerikanischen Englisch leben, öfters steif und abgehackt wirken. Altbacken wirkende Vokabeln wie "Muffensausen" oder "hanebüchene Vorhaltungen" und die lieblose Übertragung des Titels vom Original A Private Station zu Am Rand der Welt, lassen an der Qualität der Übersetzung zweifeln. Auch die Aufmachung der deutschen Ausgabe, die Isabel Klett und ihren Illustrationen als Plattform dient, ist zu bemängeln.
Das alles soll aber nicht Raymond Kennedys Schuld sein, denn seine Novelle ist eine intelligente und vielschichtige Erzählung, auch wenn der Autor noch nicht die ihm gebührende Beachtung gefunden hat. (Julia Zarbach)