Viennale 2024 Architecton Filmstill

Der Dokumentarfilm Architecton von Regisseur von Victor Kossakovsky ist eine visuell wuchtige Kritik an der Schnelllebigkeit der modernen Baukultur. Zu sehen ab 10.11.2024 im Kino.

Architecton – die Filmkritik 

Mal fliegend, mal tanzend, dann gnadenlos zerberstend rollen, rutschen und verharren die Stars in Victor Kossakovskys neuem Film Architecton: Steine, zum Leben – und Sterben – erweckt. Mit epischer Bildgewalt macht sich der russische Exilregisseur daran, das scheinbar Leblose neu zu beleuchten und die Bedeutung der Steine für die Menschheit – und den gleichzeitigen Missbrauch durch diese – zu inszenieren. 

Architecton verliert keine Zeit: eine Kameradrohne schwebt drohend über und durch Kriegsruinen in der Ukraine; zerstörte Wohnhäuser klaffen wie tiefe Wunden, unterlegt von düsteren Streichern. Zurückgelassene Alltagsgegenstände in den zerbombten Betongerippen weisen den Zusehenden von Beginn an den Weg: Architecton ist ein Film über das paradoxe Dilemma einer Menschheit, die eigentlich im Stande dazu ist, ewigschöne Wunder der (stein-)harten Beständigkeit zu bauen, um dann mit gleicher Inbrunst andere zu zerstören. So inszeniert Architecton Stein und Beton als Sinnbild einer modernen Menschheit, die sich selbst auszulöschen scheint.  

Ein beinahe biblisches Epos 

Architecton Foto: Viennale 2024

94 Minuten lang entwickelt Victor Kossakovsky einen monumentalen Kampf, visuell geführt zwischen antikem Stein und modernem Beton, gleich einer weisen Mutter, der ihr gieriger Sohn entglitten ist. Kontrasthungrig, brutal und angesichts der Bildästhetik stellenweise erhebend, dann wieder aufgrund des Gezeigten Raubbaus das Gewissen quälend kommt Architecton daher. Narrationslos wechseln die Perspektiven von der schonungslosen Schnelllebigkeit der Moderne hin zu der brachial sanften Beständigkeit und Schönheit antiker Bauwerke. Und so schafft es Victor Kossakovsky, die Anmut von Natur und Bauwerken ebenso virtuos und schön darzustellen wie deren Zerstörung. 

Beinahe biblisch mutet auch Regisseur Kossakovskys ständiger Verweis an, dass die Menschen mit dem puren Gestein schon die perfekte Materialiät in unserem Garten Eden der Natur gefunden zu haben scheinen, damit einst ästhetisch und zweckmäßig bleibende Bauwerke schufen, und sich dann dennoch dafür entschieden haben, dass der Stein nicht genug ist, und sie massenweise kalten Beton – wie der verbotene Apfel der modernen Wegwerfgesellschaft – aus ihm kreieren, um ihn in gebaute Verbrechen einer gierigen Gesellschaft zu gießen. Architecton beschreibt diesen modernen Sündenfall mit eindrucksvollen Bildern, schonungslos legt Architecton seine Finger in die Wunden der menschlichen Konsum- und Zerstörungswut.  

Kossakovskys konstruktivistischer Auftrag 

Die künstlerischen Einflüsse des in Berlin lebenden Regisseurs Victor Kossakovsky zeigen sich dabei deutlich: Architecton kommt daher wie eine Heirat aus Andrei Tarkovskys poetischer Bildsprache mit oft spiritueller, beinahe meditativer Tiefe und Krzysztof Kieslowskis philosophischer, existenziellen Fragen auf den Grund gehender Handschrift. So zeigt ein Höhepunkt von Architecton die minutenlange Aufnahme einer Gerölllawine, die in Zeitlupe wie ein Meteoritenschauer über die Leinwand – und das Publikum in ihren Bann – zieht. Überhaupt gelingt es Victor Kossakovsky sehr gut, die Zuschauer*innen in einen konstruktivistischen Konflikt zu treiben, indem er Steine – eigentlich sinnbildlich für Solidität und Beständigkeit – als lebendige, beinahe menschliche Protagonisten inszeniert. So zwingt er dem Publikum ein visuelles Experiment auf, zeigt explosionsartig zerfallenden Stein und zugleich winzige, detailreiche Bruchstücke, die in der Schwere des Moments verharren.  

Baukultur als symbolisches Schlachtfeld 

Victor Kossakovsky beherrscht Cinéma Vérité, das Einfangen realer, "unverfälschter" Momente, um den Betrachtenden erst ein Eintauchen in die rohe Schönheit und Macht der Natur zu ermöglichen, um bei diesen dann die logische Empathie hervorzurufen, wenn er die Zerstörung dieser Umwelt zeigt. Felsen, Ruinen, Fragmente werden so zu Protagonisten, nahbar und beinahe menschlich. So inszeniert Victor Kossakovsky antike Säulen wie gefallene Soldaten auf dem Schlachtfeld und Ruinen wie Grabsteine einer einst gleichermaßen funktionalen wie schönen Baukultur. Moderne Betonbauten hingegen stehen kalt und schroff als Symbole für eine Wegwerfgesellschaft, deren Ressourcenverbrauch und rascher Verschleiß immer schneller voranschreiten.  

Wenn Bäume ermordet werden 

Einer der einprägsamsten Momente zeigt das Fällen eines Baumes – eine Szene, die so qualvoll langsam inszeniert ist, dass man das Gefühl hat, dem Baum beim Sterben zuzusehen. Spätestens wenn der entastete Baum dann aus dem Bild geschleift wird, bekommt die/der Zuseher*in das Gefühl, gerade einem Mord und dem anschließenden Beseitigen der Leiche beigewohnt zu haben. Dies gelingt durch Ben Bernhards Kameraarbeit, die meist zwischen monumentalen Weitwinkelaufnahmen und Nahaufnahmen in Zeitlupe pendelt. Unterstützt von Evgueni Galperines düster-unheilvollem Soundtrack, zeigt Victor Kossakovsky die zerberstende Wucht und unvergängliche Ästhetik des Steins, der für ihn als stiller Zeuge von Zeit und Geschichte fungiert.  

Ein einsamer Architekt als Sinnbild der Hilflosigkeit 

Filmkritik Architecton bei der Viennale 2024

Architecton vertraut dabei ganz auf die Kraft der Bilder und des Pathos, ohne mit Erklärung oder Texten abzulenken. Erst gegen Ende erscheint der Regisseur selbst im Gespräch, um die Aussage doch noch verbal zusammenzufassen. Sein Gesprächspartner – und neben der Steine menschlicher Hauptprotagonist von Architecton – ist der renommierte italienische Architekt und Designer Michele De Lucchi, dessen Œuvre neben Möbeln und Alltagsgegenständen auch mehrere Bankgebäude in Deutschland und Italien beinhaltet. Michelle De Lucchi, ein nachdenklicher, etwas verschrobener Ruhepol, unterbricht mit seiner menschlichen Hilflosigkeit immer wieder die Bildgewalt. Staunend und demütig wandert er durch antike Ruinen, romantisiert, philosophiert und trauert dabei. Wiederkehrend zeigt Architecton den Architekt*innen auch, wie er zwei Steinmetze anleitet, in seinem Garten einen Steinkreis anzulegen. Dieser soll das Leben des 72-Jährigen überdauern und von Menschen nie mehr betreten werden. Ein ebenso plakativer wie hilfloser Appell für eine Baukultur, die die Natur respektiert und sich von der Schnelllebigkeit moderner Architektur distanziert. Und so führen die Steinmetze ihre Arbeit zwar professionell aus, doch so recht verstehen wollen scheinen sie den vollbärtigen Künstler nicht.  

Mehr klagen als wagen 

Damit liefert Victor Kossakovsky gleich ein Sinnbild für die Kritik, die man vielleicht an Architecton äußern kann: neben der Bildgewalt und den großen philosophischen Fragen, bleibt Viktor Kossakovskys Film Antworten schuldig, was denn nun an Konsequenzen folgen sollten. Wieder bauen wie in der Antike? Kein Beton mehr verwenden? Städte um grüne Inseln herum bauen, die kein Mensch mehr betreten darf? Wahrscheinlich will Victor Kossakovsky von alldem ein bisschen, aber da Architecton selten die bildliche Ebene verlässt, verliert er sich manchmal irgendwo zwischen melancholischem Romantisieren der Vergangenheit und abstrakter Träumerei über eine bessere Zukunft. Interessant ist dies auch vor dem Hintergrund, dass Online – insbesondere auf X (vormals Twitter) – ein neuer Trend hin zur Glorifizierung der Antike und ihrer Baukultur auszumachen ist. Hinter Profilen wie "The cultural tutor", meist erkennbar an Profilbildern, die antike Statuen zeigen, verstecken sich oft Vertreter von neurechten Bewegungen, die mithilfe des niedrigschwelligen Zelebrierens der Bauwerke oftmals auch ihre faschistoide Ideologie zu transportieren versuchen. So wird einer zutiefst faschistischen Zeit und Ästhetik gehuldigt und deren Schattenseiten bewusst ignoriert – oder gar heimlich zurückgewünscht. "Früher war alles besser und schöner", suggerieren auch Victor Kossakovsky und Michelle de Lucchi, während sie römischen Ruinen huldigen, die höchstwahrscheinlich unter Qualen von Sklav*innen errichtet wurden, nachdem die entsprechenden Gebiete vorher gewaltsam kolonialisiert wurden.  

Widersprüche aus dem Elfenbeinturm

Dennoch kann man beiden wohl kaum vorwerfen, sich dieser Hintergründe bewusst zu sein, geschweige denn diese bewusst aufzugreifen. Architecton ist zwar ein zutiefst reaktionärer Film, allerdings wohl eher bedingt durch die Mischung aus Tunnelblick und Naivität, die entsteht, wenn sich zwei begabte Künstler treffen, die über Jahrzehnte unumkehrbar in die Elfenbeintürme ihrer Fachgebiete aufgestiegen sind. So entsteht eine weitere Widersprüchlichkeit – ob beabsichtigt oder nicht – die dem Publikum einen zusätzlichen Konflikt mit auf den Weg gibt. Sinnbildlich hierfür steht eine Szene am Ende: Victor Kossakovsky und Architekt Michele De Lucchi sinnieren bedeutungsschwanger darüber, ob der unter viel Pathos finalisierte Steinkreis ein mögliches Vorbild für die Zukunft sein könnte; sie klagen Beton und modernes Bauen an; fordern menschenfreie, grüne Stadtzentren; stellen sich die Frage, warum Gesellschaften heute noch so bauen, wider besseren Wissens um mögliche Nachhaltigkeit und Schönheit. Dann gibt Michele De Lucchi nachdenklich zu, dass sein Büro gerade selbst daran beteiligt ist, einen seelenlosen Beton-Wolkenkratzer in Mailand zu bauen, er aber "damit nichts zu tun haben will." 

Ebenso schwammig wie erschreckend schön

Architecton ist eine Bestandsaufnahme unserer modernen Welt. Wie ein Philosoph der Gegenwart inszeniert Victor Kossakovsky große Fragen – die angedeuteten Antworten bleiben aber schwammig. Doch vielleicht ist es eben jene Widersprüchlichkeit, die Architecton so stark macht, weil er – ebenso wie Michele De Lucchis Wolkenkratzer – die ökonomischen Zwänge und Realitäten unserer Welt aufgreift und gnadenlos die kognitive Dissonanz einer Gesellschaft zeigt, die sich zwar einig darüber ist, dass sich etwas ändern muss, doch oft nicht in der Lage dazu scheint, dies auch durch konkrete Handlungen umzusetzen. So verharrt Architecton im ästhetischen, klagenden Modus und lässt die Zuschauer*innen zwischen der gewaltigen Bildsprache und dem philosophischen Anspruch zurück. In Heideggerscher Manie fordert Architecton zum Nachdenken über das "Sein" und die Verantwortung des Menschen auf. Damit lässt er das Publikum zwar visuell satt, angesichts der Widersprüchlichkeit aber ebenso betroffen und nachdenklich zurück. Architecton ist ein Film, der mit aller Kraft aufwühlen will; voller Pathos wertvoll und beständig sein will. Und auch wenn Architecton manche Antworten schuldig bleibt – Victor Kossakovskys Dokumentation ist so erschreckend schön, dass ihm das gelingt. // 

Text: Anton Mattmüller
Fotos: Viennale   
Diese Filmkritik entstand im Rahmen der Viennale 2024, auf der Architecton zwei mal gezeigt wurde.
Der Film läuft ab 10.11.2024 im Filmcasino.  

Film-Infos:
Architecton
Drehbuch: Victor Kossakovsky 
Kamera: Ben Bernhard 
Ton: Alexander Dudarev 
Schnitt:Victor Kossakovsky, Ainara Vera 
Musik: Evgueni Galperine 
Produktion: Ma.ja.de. Filmproduktion 
Weltvertrieb: The Match Factory 
Verleih in Österreich: Filmladen 
Format: DCP
Farbe

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