Vom Festhalten an einer Liebe über Geschlechterrollen einer zweigeschlechtlich dominierten Gesellschaft hinaus erzählt der Film "Laurence Anyways" von Regisseur Xavier Dolan.
Barbara Reumüller nannte ihn in ihrer Ansprache vor dem Film ein "Wunderkind", und das ist Xavier Dolan wohl auch. Seinen ersten Film "J'ai tué ma mère" schrieb er mit 17 und drehte ihn mit 19. Dolan ist ein virtuoser Komponist. Seine Filme sind Sinnesfeste in denen weder Musik noch Farben oder kleinste Bewegungen jemals bedeutungslos sind. Dolan ist ein Meister der Details. Wenn er Regie führt, sind Farben hörbar und Töne zu schmecken. Jeder Hintergrund und jedes Kleidungsstück erzählt eine Geschichte, Gegenstände wie eine Lampe ziehen sich durch den Film und stehen für Gefühle und deren Veränderung oder Bestehen. Die vergehende Zeit zeigt sich vor allem in den Frisuren und der Kleidung, die sich aus den 80ern durch die 90er und auch durch die wechselnden Lebenssituationen verändert.
Erste äußerliche Veränderung
Kleidung spielt eine große Rolle in diesem Film. Sie wird als ästhetisches Mittel eingesetzt, denn die Kleidung ist die erste Veränderung, die äußerlich an Laurence (Melvil Poupaud) für alle sichtbar wird. Sie ist es auch, worauf Fred (Suzanne Clément) besonderen Wert legt, nachdem Laurence gestanden hat, was bereits ein Leben lang im eigenen Körper vorgeht. Sehr genau möchte sie in einer Art Verhör wissen, was Laurence sich gekauft und angezogen hat. Sofort glaubt sie, Laurence sei nun schwul, denn sie kann zuerst nicht begreifen, was Transgender bedeutet. Als Fred beginnt zu spüren, dass sie Laurence liebt und Halt geben will, kauft sie eine Perücke. Die Auseinandersetzung mit dieser Perücke ist ebenfalls mit Bedeutung aufgeladen, denn für Laurence ist es besonders wichtig die eigenen Haare zu tragen. Laurence will die Veränderung in sich vollziehen, denn Weiblichkeit zieht sich nicht an, sie kommt heraus, war immer schon da. Bei Dolan kann selbst im Wind wehende Wäsche etwas wahnsinnig Sinnliches sein. Gefühle werden durch Naturphänomene dargestellt. Starker Schnee fällt beinahe undurchdringlich, ein ganzer Wasserfall stürzt mitten in einem Wohnzimmer auf Fred herab, nachdem sie Laurences Gedichtband gelesen hat und starker Herbstwind reißt an ihren Kleidern, als Fred ein endgültiges, letztes Mal, vor Laurence davonläuft.
Fixiert auf Liebe
"Laurence Anyways" ist ein dröhnendes Feuerwerk, das manchmal leicht übersteuert. Immer wieder branden die, für Dolan typische - leicht pathetische, bunte, schrille und explodierende - Momente auf. Der Film ist zuweilen schrill und hektisch, was auch die Kameraführung ausdrückt. Er stellt einen Zeitraum von 1987 bis Ende 1999 dar. Dieser lange Zeitraum führt auch dazu, dass Dolans Film ein großer und zuweilen schwerer Brocken geworden ist, der von der rund komponierten Leichtigkeit der vergangenen Filme etwas abweicht. Es fehlt ein wenig der dramaturgisch leichtfüßige Schwung der ersten Filme. Jedoch geht Dolan mit "Laurence Anyways" auch einen Schritt weiter als in "J'ai tué ma mère" und "Les amours imaginaires", dieser Film ist existenzieller. Fred will offen sein, sie liebt Laurence, doch sie kommt damit, dass Laurence eine Frau ist, nie so sehr klar, wie sie es sich selbst gewünscht hätte. Beide sind fixiert auf ihre Liebe, scheitern jedoch aneinander und Fred läuft immer wieder vor Laurence davon. Laurence Weg zu sich selbst bleibt in Distanz zu Fred, da die eigenen Grenzen dort beginnen, wo sie die Grenzen anderer verletzen und Freds Grenzen irgendwann erreicht sind. Sie verkraftet die Blicke nicht, die dummen Fragen und die Angst davor, dass Laurence wieder zusammengeschlagen werden könnte. Um dem gemeinsamen Weg mehr Zeit zu verschaffen treibt sie ein gemeinsames Kind ab, woraufhin sie psychisch erkrankt. Eine nicht unproblematische Episode im Film.
Fließender Übergang zwischen den beiden Geschlechtern
Laurence verliert nach den ersten mutigen Schritten auf dem Weg von der Außenwelt als Frau wahrgenommen zu werden den Job als Lehrkraft. Zwar wird sie von den SchülerInnen offen angenommen, doch eine Elterninitiative wendet sich gegen die unterrichtende Transfrau. Sie wird auf der Straße zusammengeschlagen und es dauert eine Weile, bis ihre Mutter sich ihr wieder öffnet und bereit ist, zu ihr zu halten. Das erste was im Film gezeigt wird, sind die Blicke der Menschen, die Laurence anstarren oder bewusst wegsehen, noch bevor sie selbst gezeigt wird. Laurence bewältigt die gesellschaftlichen Hürden mit großem Stolz und aufrechtem Gang, während Fred immer mehr an ihnen zerbricht. Dolan spielt auf mehreren Ebenen mit Geschlechterrollen. Er arbeitet sich an Erwartungshaltungen ab, dass "die Männer" den schweren Fernseher auf den Dachboden tragen und "die Frauen" gute Gastgeberinnen seien sollen. In Laurences Erscheinung wird stets der fließende Übergang zwischen den beiden Geschlechtern, die unsere Gesellschaft für möglich hält, verdeutlicht. Auch die Namen Fred und Laurence stellen die fließenden Übergänge dar. Laurence behält diesen Namen, denn ein Name ist nur eine Bezeichnung, deren mit Geschlecht verbundene Bedeutung konstruiert ist. (Katharina Fischer)
Film-Tipp:
Laurence Anyways
Kanada/ Frankreich 2012, 159 Minuten
Filmfestival identities 2013
Bewertung: @@@@@
Kritik zur Vorführung am 14.6. im Filmcasino
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Regie und Buch: Xavier Dolan
Schnitt: Xavier Dolan
Kamera: Yves Bélanger
Musik: Noia
Produktion: Lyse Lafontaine
Darsteller_innen: Melvil Poupaud, Suzanne Clément, Nathalie Baye, Monia Chokri, Susan Almgren, Yves Jaques, Sophie Faucher