Ein Theaterstück, das in einem weißen Raum durch die Zeit jagt. NIX vom E3 Ensemble bietet humorvolle wie intelligente Unterhaltung.
Unterhaltung im sportlichen Zwei-Minuten-Takt
Wenn einem etwas davon abhält ins Theater zu gehen, dann schaut man sich eben nix an. Wenn hingegen der Entschluss gefasst wird ins Theater zu gehen, dann kann es durchaus vorkommen, dass man auch NIX sieht. Weiße Bühne. Weißer Kontrabass. Das Schauspielensemble in weißen Tennisdressen gewandet, sich in Posen werfend zur Schau gestellt. Die Farbe Weiß, möglicherweise als nihil privativum, als etwas Abwesendes, dessen Anwesenheit erwartet wurde, oder, die Farbe Weiß als Inszenierung eines simulierten Multiversum, dass unser gegenwärtig anerkanntes Universum einfach bloß eine Computersimulation ist, die von einer Zivilisation durchgeführt wird, die dazu technisch in der Lage ist. Oder aber nix von alledem, sondern nur ein Theaterstück. 90 Minuten bestmögliche Unterhaltung, umgesetzt vom Theaterensemble E3, bei dem im sportlichen Zwei-Minuten-Takt schon mal auch Fragen abgewertet ("Das ist eine langweilige Frage") und mit einer Gegenfrage ("Was ist eine interessante Frage?") gekontert wird. Die Quantenmechanik legt nahe, dass jede in ihren Wahrscheinlichkeitswellen verkörperte Möglichkeit in einem aus einer Riesenzahl von Paralleluniversen realisiert ist. Die Existenz von Wissen und die Existenz von Kunst ist unvernichtbar, und das ist ned nix, aber bedenke: Misstraue der Idylle, sie könnte trügerisch sein.
Fluchtpunkte in verdrehte Gedanken
Theater als Ort von Erinnerungen an die Gegenwart. Manchmal passiert dort in sentimentaler Weise alles, manchmal, im vertrauten Jetzt, in lohnenswerter Weise nix. Weiß ist die hellste aller Farben, keine Spektralfarbe, dafür unbunt. Weiß wird im westlichen Kulturkreis in der Regel mit Begriffen wie Freude assoziiert. Buddhisten tragen Weiß als Zeichen der Trauer und im deutschen Sprachraum ist Weiß in der sorbischen Überlieferung ebenfalls die Farbe der Trauer. Die Farbe Weiß steht auch für Unsterblichkeit und Unendlichkeit. Ist das Universum unendlich, so muss daraus folgen, dass sich die Bedingungen von einer Raumregion zur nächsten zwangsläufig irgendwann wiederholen. Dies führt zu Parallelwelten. Das E3 Ensemble generiert aus privaten Erzählungen Fluchtpunkte in verdrehte Gedanken und absurde Gefühlswelten. Reden, um zu reden. Der mit Abstand schönste Mann des Schauspielensembles (großartig: Gerald Walsberger) stoppt die Zeit und zitiert fast schon inflationär aus Erkenntnissen der theoretischen Astrophysik. Die niemals endende kosmische Inflation erzeugt ein riesiges Netzwerk von Blasenuniversen. Eines davon ist unser Universum.
Wenn alles nix mehr weiterhilft
Antonia Dering am weißen Kontrabass singt pathetisch intensiv "Imagine" von John Lennon als Statement zum gegenwärtigen Krieg in der Ukraine. Die Farbe Weiß steht auch für Frieden. Sie alle (Anna Tsombanis am Saxofon ausgenommen; sie "spricht" durchs Saxofon) reden, als ob "Diskussionen helfen", die "aus dem Lot geratene Welt zu heilen". May Garzon und Rina Juniku liefern auch keine Antworten, nutzen aber den Bühnenraum auf unberechenbar komischer wie tragischer Art alles zu fragen und zu sagen, das Denken zu zerlegen, das Fühlen zu erleben und zu verstummen, wenn die Aufmerksamkeit füreinander enden wollend ist oder in eine Art Gefühlskollision mündet, wenn also alles nix mehr weiterhilft. Im Branwelt-Szenario der String-/M-Theorie befindet sich unser Universum auf einer dreidimensionalen Bran. Kollisionen zwischen Branwelten können zu Urknall-ähnlichen Anfängen führen, sodass zeitlich getrennte Paralleluniversen entstehen.
Die Frage nach einem Sinn verlangt höchste Aufmerksamkeit
Isabella Jeschke - sie war als Ensemblemitglied vom aktionstheater ensemble u.a. in Lonely Ballads (2021) zu sehen - beeindruckt mit ihrem präzisen Slapstick und mit ihrer verbalakrobatischen Fähigkeit. Die Frage nach einem Sinn verlangt höchste Aufmerksamkeit, auch (oder gerade weil) zwischendurch immer wieder durch absurde Interaktionen abgelenkt wird. Im Zuhören muss man ja nicht alles verstehen. Das Multiversum ist nach der Interaktionstheorie die Summe aller Wirklichkeiten. Da jede existierende Entität durch Interaktion ihre subjektive Wirklichkeit schafft, entspricht die Anzahl an Entitäten der Anzahl an Universen im interaktiven Multiversum. Wie bereits erwähnt gibt es in NIX keine Antworten auf den Sinn des Lebens und der Wirklichkeit des Universums, aber es stellen sich wertvolle Fragen, die jede/r für sich oder in gemeinsamer Runde ausloten kann. Was bleibt ist, dass NIX unbedingt sehenswert ist, großartige Momente liefert, und, mehr noch, ein frühes Theater-Highlight ist. //
Text: Manfred Horak
Fotos: Thomas Steineder
Kurz-Infos:
Kritik zur Uraufführung nix vom E3 Ensemble am 21.4.2022 im Das OFF Theater (Kirchengasse 41, 1070 Wien)
Mit May Garzon, Isabella Jeschke, Rina Juniku, Gerald Walsberger
Musik Antonia Dering, Anna Tsombanis
Dramaturgie Thomas Bischof
Kostüm/Ausstattung Pia Stross
Künstlerische Beratung Susanne Brandt
Koproduktion E3 Ensemble/ DAS OFF THEATER WIEN
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