Nach "Medea.Stimmen" von Christa Wolf nahmen sich Julia Nina Kneussel und Martina Theissl eine weitere Erzählung der Autorin vor, um es für die Bühne zu adaptieren, das großartig in Szene gesetzte "Kassandra".

Die Zukunftssprache hat für mich nur diesen einen Satz: Ich werde heute noch erschlagen werden.

Reduktion bestimmt das Bühnenbild. Es braucht ja auch nicht viel, um die Sprache in die Mitte zu rücken. Was man anfangs als einen langen, einleitenden Monolog, mit spärlichen elektronischen Sounds umrahmt, glaubt, erweist sich recht bald als ein Theaterstück, das beim Monolog für eine Schauspielerin bleibt, die Kraft der Sprache auskostend. Nach Christa Wolfs Medea.Stimmen (2017) bringen nun also Julia Nina Kneussel (Regie, Textfassung) und Martina Theissl (Dramaturgie, Textfassung) "Kassandra", nach dem Roman von Christa Wolf, auf die Bühne des KosmosTheater. Das Stück steht und fällt mit Julia Schranz, denn ihr alleine gehört die Bühne, die Aufmerksamkeit. Und wie sie es schafft das Publikum von Beginn an zu fesseln, ist mehr als beeindruckend, ist ganz großes Erzähltheater.

Was wollen diese Menschen. Sie wollen von mir das Schicksal ihrer Stadt erfahren. Arme Menschen.

Der Text von Christa Wolf adaptiert die von Aischylos in seiner "Orestie" erzählte Geschichte der trojanischen Königstochter Kassandra. Sie hatte von Apollon die Sehergabe erhalten, war dann aber von ihm gestraft worden, als sie sich seiner Liebe verweigerte: Niemand sollte je ihren Prophezeiungen Glauben schenken. Vergebens warnte Kassandra die Trojer vor dem Krieg mit den Griechen. Nach dem Untergang ihres Volkes wird sie von Agamemnon als Sklavin nach Griechenland verschleppt. Und genau hier setzt die Erzählung von Christa Wolf (stilistisch als innerer Monolog angelegt) und die Bühnenfassung ein: Kassandra steht vor dem Löwentor von Mykene, weiß um ihren bevorstehenden Tod und um das Schicksal des triumphierenden Agamemnon, der einem Anschlag seiner Frau Klytämnestra und ihres Liebhabers zum Opfer fallen wird.

Ich, Kassandra, keine andre der zwölf Töchter des Priamos und der Hekabe, war vom Gott selbst zur Seherin bestimmt.

Christa Wolf schrieb den Text 1982 im Rahmen ihrer Poetik-Vorlesungen in Frankfurt/Main, wobei die Autorin nicht nur das Interesse an der Figur Kassandra als Sinnbild für die Ohnmacht des Wissens im Sinn hatte, sondern vielmehr auch dessen Bezüge zur Gegenwart. In den frühen 1980er Jahren war dies in erster Linie das Wettrüsten und die atomare Bedrohung. "Wann Krieg beginnt, das kann man wissen, aber wann beginnt der Vorkrieg. Falls es da Regeln gäbe, müßte man sie weitersagen. In Ton, in Stein eingraben, überliefern. Was stünde da. Da stünde, unter andern Sätzen: Laßt euch nicht von den Eignen täuschen."

Was hieß denn uns alle hoffen, […] gerade er würde uns das Goldene Zeitalter wieder heraufführen?

Aber der Text ist auch auf die heutige Gegenwart anno 2018 anwendbar. Zum Teil ist das dann schon sehr gruselig, wie sehr im Stück auf die Phänomenologie der Geistlosigkeit unserer Regierung Bezug genommen wird ohne vom Originaltext abweichen zu müssen. Sei es die fehlende humanitäre Denkkraft, sei es die Demontage des Sozialstaats und demokratischer Ideale. "Jubelnd lief das Volk durch die Straßen. Ich sah eine Nachricht zur Wahrheit werden. Und Priamos hatte einen neuen Titel: 'Unser mächtiger König'." Industrial Sounds und grobkörnige Silhouetten stehen im stummen Dialog zur hervorragenden Julia Schranz. Lichtprojektionen im Strahlenglanz. Sehungen. Sätze, die tief und nachhaltig wirken. "Alles, was sie wissen müssen, wird sich vor ihren Augen abspielen, und sie werden nichts sehen." Zeitenlöcher dürfen nicht ungenutzt vergehen, heißt es am Ende des mitreissenden Monologs, bevor "Wuthering Heights" von Kate Bush und der verdiente Schlussapplaus einsetzt. //

© Text: Manfred Horak
© Fotos: Bettina Frenzel

Kurz-Infos:
Kassandra nach dem Roman von Christa Wolf
Bewertung: @@@@@
Kritik zur Premiere am 17.1.2018 im KosmosTheater

Regie:
Julia Nina Kneussel
Bühnenfassung: Julia Nina Kneussel, Martina Theissl
Dramaturgie: Martina Theissl
Video: Mihaela Kavdanska, Dilmana Yordanova, Cristian Iordache / KOTKI visuals
Musik: Stefanie Neuhuber
Ausstattung: Gudrun Lenk-Wane
Regieassistenz: Olivia Poppe
Regiehospitanz: Avelina Goetz
Mit: Julia Schranz