allerwelt01Ein beachtenswertes Theaterstück mit Traumsequenzen und realer Härte kommt mit "Allerwelt" von Philipp Weiss unter der Regie von Pedro Martins Beja im Schauspielhaus Wien auf die Bühne.

Ausgangspunkt ist die in Wien Simmering gelegene Flüchtlingssiedlung Macondo, ums Wurzeln schlagen in der Fremde wie eine Karotte, wie wir gleich zu Beginn des Stücks erfahren. Macondo steht (mittlerweile) auch für (beinahe) Hundert Jahre Einsamkeit - im Jahr 1915 wurde nämlich dieser letzte große Kasernenbau der Monarchie in Wien fertig gestellt, und tatsächlich irgendwann nach dem fiktiven Dorf aus dem Roman "Hundert Jahre Einsamkeit" von Gabriel Garcia Marquez umbenannt. Macondo in Wien Simmering ist ein Ort, in dem Flüchtlinge von aktuellen Kriegsschauplätzen aus allen Teilen der Welt auf Bewohner, die seit 1956 ihren Heimatort gefunden haben, treffen. Diese Entwurzelung, Verwurzelung, Erlebnisse und Traumata werden in "Allerwelt" in zahlreiche Geschichten verpackt. Die Erzählenden sind die Flüchtlinge selbst, wobei hier offensichtlich Fiktion mit Realität verwoben wird und starke Anleihen an "Alice im Wunderland" von Lewis Carroll Eingang finden, aber auch in "Tausendundeiner Nacht" mit der endlos verwobenen Geschichte von Scheherazade, und nicht zuletzt im Koran, Sure 20, Vers 56: "Bist du zu uns gekommen, um uns mit deiner Zauberei aus unserem Land zu vertreiben?" Ähnlich wie generell in Sure 20 enthält jede der Allerwelt-Geschichten verschiedene Aspekte und jede Biografie hat Details, welche in keiner anderen enthalten sind, und so wie der Koran selbst Erinnerung ist, sind die erzählten Geschichten Erinnerung.  

Geschichten zu erzählen, die bislang ungehört waren

Die Bühne (zu Beginn mit durchsichtigem Vorhang), gekonnt umgesetzt von Janina Audick, zeigt in der Eingangssequenz bildhafte Szenen. Sehr beeindruckend, dabei ziemlich spooky und gleichzeitig mit einer irritierenden Ästhetik, bewegt sich Barbara Horvath zu "Machine Gun" von Portishead. Eine Szene, die immer wieder vorkommt, mal mit, mal ohne Musik, und eine große Traurigkeit und eine noch größere Traumata in sich birgt. Flüchtlinge aus verschiedenen Jahrzehnten und unterschiedlichen Ländern - Ungarn 1956, Tschechoslowakei 1968, Chilenen auf der Flucht vor dem Pinochet Regime (frühe 1970er Jahre) und Flüchtlinge aus Tschetschenien, Türkei, Somalia, Afghanistan, Iran, Irak - erzählen ihre Geschichte. Durch das Stück führt in gewisser Weise Mila Katz, quasi die Alice aus dem Wunderland, dargestellt von der hervorragenden Nicola Kirsch. "Ich habe in meiner Auseinandersetzung versucht, auch Geschichten zu erzählen, die bislang ungehört waren", so Stückeschreiber Philipp Weiss, "Geschichten, die die gängigen Erwartungen darüber, was ein Flüchtlingsschicksal ist und wie es zustande kommt, auch unterlaufen."

Obszön und heftig bis poetisch, polemisch, humoristisch

Jugendslangs und diverse Akzente, wie z.B. deutsch-ungarisch - voll aufgehend in seiner Rolle dabei Steffen Höld als ungarischer Grenzbeamter Gaspar - bestimmen das Sprachbild, von obszön und heftig bis poetisch, polemisch, humoristisch. Pantomimik entsteht schließlich dort, wenn die Sprache Pause hat bzw. nur sehr sparsam eingesetzt wird. Besonders auffällig und gelungen z.B. die Gesichtsartistik von Katja Jung, die im pompösen Kleid durch ihr Königinnengehabe besticht und an eben diese Wunderlandfigur erinnert. Sehr präsent auch die großartige Veronika Glatzner als Mutter, die mit ihren beiden Kindern (Theodora Guschlbauer und Simon Maurer) ständig auf der Flucht ist. Großer Schwachpunkt des Stücks ist die Szene zum Prager Frühling 1968. Hier schwächelt es im Text gewaltig. Grandios hingegen der Schlussteil mit dem superben Florian Manteuffel als chilenischer Revoluzzer Guillermo und einer aberwitzigen Simultanübersetzung von Katja Jung. Da schließt sich dann der Kreis zum Beginn des Stücks, in dem ein letztes Mal der Versuch gestartet wird den Ort Allerwelt zu definieren. Im Gedächtnis bleiben allerdings frühe Dialoge wie "Entschuldigung, ich bin fremd hier." - "Entschuldigung, das sind wir alle!", und Aussagen wie "Die Revolution ist nicht tot. Sie ist noch nicht geboren." Nach einigen Schweigeminuten endet das Stück. Der Schlussapplaus ist dafür umso lauter. (Text: Manfred Horak; Fotos: Alexi Pelekanos)

allerwelt02Kurz-Infos:
Allerwelt
Bewertung: @@@@
Schauspielhaus Wien
Kritik zur Premiere am 20.3.2014

Autor: Philipp Weiss
Regie: Pedro Martins Beja
Bühne/Kostüme: Janina Audick
Musik: Jörg Follert
Video: Sacha Benedetti
Mit: Veronika Glatzner, Barbara Horvath, Steffen Höld, Katja Jung, Nicola Kirsch, Florian von Manteuffel, Gideon Maoz, Simon Zagermann
Kinder: Theodora Guschlbauer, Simon Maurer