Ein mysteriös-psychologisch-düsteres Musiktheater unter Verwendung von Textstellen aus der dramatischen Dichtung "Die Tragödie des Menschen" von Imre Madách (1823-1864) und mit Franz Liszts "Faust-Sinfonie" wird mit "Der Rorschach Text" im schönen Theater Nestroyhof Hamakom unter der Regie von Thomas Desi zur Aufführung gebracht.
Die schweizerische Flüchtlingspolitik im Zweiten Weltkrieg ist von zentraler Bedeutung dieses zweieinhalb stündigen Theaterabends mit Tristan Jorde als Faust, Karl Maria Kinsky als Luzifer, Mia Krieghofer als Eva und der Sopranistin Judith Halász. In einem einzelnen Güterwaggon weg vom totalen Krieg in Wien des Jahres 1942 nach Rorschach in der Schweiz will sich nämlich ein mit Pelzen beladener, sowie mit in Schmalz eingelegten Edelsteinen ungarischer Pelzhändler samt 13-jähriger Tochter begeben. Zu Hilfe kommen soll ihnen dabei der Teufel in der Gestalt eines Wiener Strizzi, der ihnen den Güterwaggon verkauft und auch eine Lokomotive beschaffen soll.
Das Boot ist voll
Obwohl der Schweizer Bundesrat im Sommer 1942 wusste, dass den zurückgewiesenen Flüchtlingen die Deportation nach Osteuropa und damit der Tod drohte, galten Juden nicht mehr als politische Flüchtlinge. Einer der billigsten Ausreden überhaupt wurde im Zuge dessen geprägt: Das Boot ist voll. Hilfswerke und Teile der Bevölkerung protestierten vehement gegen die Grenzschließung und ein Schweizer Student sah bereits im Oktober 1942 voraus, in welche Schwierigkeiten die Einschränkung des Asylrechts und insbesondere die praktische Verweigerung des Asyls für Juden die Schweiz nach dem Krieg bringen würde, als er in einer Protestnote unter anderem schrieb: "Wir können und müssen heute auf mancherlei Rechte verzichten, aber von dem Recht und der Pflicht zur Menschlichkeit können und dürfen wir uns nicht dispensieren, denn nachher, wenn es wieder leichter, billiger und weniger riskant sein wird, menschlich zu sein, ist es dazu dann eben zu spät." Eine kleine Staatsaffäre löste ein Brief von Schülerinnen aus Rorschach an die Sehr geehrten Herren Bundesräte aus, indem sie einerseits die Vermutung aufstellten, "dass es ja sein kann, dass Sie den Befehl erhalten haben, keine Juden aufzunehmen", und sich andererseits beschwerten, dass man "Flüchtlinge ins Elend, ja in den sicheren Tod zurückstoße". Als Conclusio baten die Briefeschreiber um Aufnahme dieser Ärmsten und Heimatlosen. Bundesrat Eduard von Steiger rechtfertigte sich in einer Rede, dass man unter Umständen sogar hart und unnachgiebig zu scheinen hat, und "man muss Vorwürfe, Beschimpfungen und Verleumdungen ertragen und trotzdem widerstehen können und nicht umfallen" und schloss diese Rede mit der Begründung, dass eben das Boot voll sei. Zudem wurde aber auch die Bundesanwaltschaft eingeschaltet, die Schülerinnen und das Lehrpersonal verhört und letzten Endes alles als Missverständnis abgetan. Den Schülerinnen wurde Stillschweigen auferlegt, und in Rorschach hörte jahrelang niemand etwas über diesen Brief.
Das Leben und die Realität in Frage stellen
Das ist nur eine Komponente vom Theaterstück, eine weitere sind die musikalischen Elemente: "Der Bajazzo (Finale)" von Ruggero Leoncavallo, "Selig sind, die Verfolgung leiden" von Wilhelm Kienzl, "Trauriger Sonntag" von Rezsö Seress und der "Mephisto Walzer Nr. 1" aus der "Faust-Sinfonie" von Franz Liszt, jener sinfonischen Antwort auf Goethes Faust, in der er die Dichotomie zwischen Dichtkunst und Musik, sowie zwischen Leben und Realität in Frage stellte und so das Genre der symphonischen Dichtung schuf. Die Beziehung zwischen Text und Musik zeigt hier auf bemerkenswerte Weise, wie Worte oder ein dramatischer Hintergrund die zulässigen Grenzen der Harmoniesprache verschieben können. Die Idee hinter dieser neuartigen Form war, Bilder heraufzubeschwören und dennoch die strukturelle Komplexität zu erhalten die bezeichnend ist für den ersten Satz einer Symphonie. Heute noch ist es ein Werk von größter Relevanz, da es nach Freiheit und Befreiung strebt, oder, wie Noam Chomsky, einer der weltweit bekanntesten linken Intellektuellen, es einmal so treffend formulierte: "In jeder Phase der Geschichte muss es unser Anliegen sein, die Formen von Autorität und Unterdrückung niederzureißen, die ein Zeitalter überdauert haben, in dem sie vielleicht gerechtfertigt waren."
Kampf zwischen dem göttlichen und dem satanischen Prinzip
Und schließlich erhält das Stück noch eine dritte wichtige Komponente, und zwar in Form von Zitaten aus dem Buch "Die Tragödie des Menschen" vom ungarischen Autor Imre Madách (1823-1864). Diese in Blankversen geschriebene dramatische Dichtung in 15 Bildern ist erstmals im Jahr 1861 erschienen und hat in der ungarischen Literatur einen ähnlichen Rang wie die Faust-Dichtung von Goethe in der deutschen Literatur. Die Hauptfiguren in dem Werk sind Luzifer als quasi Regisseur des Ganzen und Geist der ewigen Verneinung, Adam als der rastlos Strebende, an dem sich erweist, dass jedes Menschheitsideal zum Scheitern verurteilt ist, sowie Eva als Verkörperung des Prinzips diesseitiger Lebensbejahung, die im Theaterstück eine Transformation erhält. Zu sehen ist sie hier nicht als erwachsene Frau von Adam, sondern, wie eingangs erwähnt, als Tochter des Pelzhändlers. Dem romantisch-düsteren Pessimismus dieses Dramas zum Trotz wird der Konflikt - der Kampf zwischen dem göttlichen und dem satanischen Prinzip - doch schon weitgehend im Geiste eines illusionslosen Realismus entwickelt und gestaltet und die wilde Hartnäckigkeit, mit der Adam das Absolute sucht, endet bei Madách mit der tapferen Bejahung der Unmöglichkeit, es zu erjagen. Der deutsche Sprachwissenschaftler Wolfgang Schlachter vertrat von Madáchs dramatischer Dichtung übrigens die These, dass der bis zum höchsten Grad individueller Freiheit gelangende Mensch notwendigerweise am Kollektiv zerbrechen muss und dass er sich deshalb schließlich in die naturgegebenen Grenzen schickt. "Die Frau als Sinnbild des unbesiegbaren Lebensinstinkts", so Schlachter, "rettet den Mann der selbstmörderischen Bindungslosigkeit des rein Geistigen. Dass solche Konzeption die einer Tragödie ist, offenbart Madáchs schon modernen Pessimismus."
Unheimliches Ganzes
All diese unterschiedlichen Schichten verknüpft der Regisseur und Textautor Thomas Desi zu einem unheimlichen Ganzen. Das Darsteller-Trio verstand es mit diesen komplexen Strukturen des Stückes gekonnt umzugehen und in der Darstellung zu glänzen, sei es die jüngste auf der Bühne, Mia Krieghofer, sei es der Wiener Vorstadtstrizzi in der Person von Karl Maria Kinsky, und vor allem Tristan Jorde als Hauptakteur, der einmal mehr sein enormes Potenzial und seine Wandlungsfähigkeit unter Beweis stellte. Heraus kam letzten Endes ein sehr gut funktionierendes und streckenweise brillantes Stück mit unterhaltenden Elementen, das hohe Ansprüche ans Publikum stellt. (Text: Manfred Horak; Fotos: Barbara Pálffy)
Kurz-Infos:
Der Rorschach Text
Bewertung: @@@@@
Zoon Musiktheater
Text und Regie: Thomas Desi
Musik: Franz Liszt
Mit: Tristan Jorde, Karl Maria Kinsky, Mia Krieghofer, Judith Halász
Kritik zur Aufführung am 17.10.2012 im Theater Nestroyhof Hamakom, Wien