schnee_3Ideologisierte Diskurse um Identität, Heimat, Herkunft und Religion standen im Fokus des anregenden postmigrantischen Theaterstücks "Schnee" aus dem Berliner Theater Ballhaus Naunynstraße im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Pimp My Integration" in der Garage X in Wien.

Seide (Sesede Terziyan) findet Schnee, diese wandelfähige, leise und doch mächtige Pracht faszinierend. Seide, deren Name ihrem Wesen in punkto Sanftheit, Schönheit und Zerbrechlichkeit um nichts nachsteht, würde sich gern wie Schnee auflösen können. Realität wird in Micans Theater weder verdeckt, noch zum Verschwinden gebracht. Eher gleicht seine Annäherung der Verwandlung in einen festen Aggregatzustand, der die Dinge greifbarer, konkreter macht.

Der Schnee fällt auf unser heißes Herz

schnee_2In einer Winternacht in der Kleinstadt Karsberg trifft Ka (Mehmet Yilmaz) nicht nur seine Jugendliebe Seide wieder, sondern findet sich zwischen den Fronten von radikalisierten Islamisten und ebenso militanten einheimischen Gegnern. Metaphorisch heißt es dazu im Stück "der Schnee fällt auf unser heißes Herz", aber anstatt es zu kühlen macht er die Menschen im fiktiven Karsberg auch nach gewaltsamen Übergriffen, einem Mord am Schuldirektor und einigen Selbstmorden von jungen Muslima nur noch tauber und abgestumpfter. In Hakan Savaş Micans Bearbeitung des Stoffs von Orhan Pamuk sind es nicht die politischen Konflikte einer zwischen Ost und West gespaltenen Türkei, sondern die ideologisierten Diskurse um Identität, Heimat, Herkunft, Religion im kleinstädtischen Deutschland, die im Fokus stehen. Die fünf Mimen behelfen sich des minimalistischen Bühnenbilds, bestehend aus vielen Schaumstoffblöcken, um eine verdichtete Fülle von Raum- und Zeitfigurationen sowie authentischen Charakteren zu erschaffen. Im temporeichen, fließenden Übergang zwischen den Szenen werden eine Reihe von Begegnungen Ka's mit Leuten in der stagnierenden Kleinstadt erzählt, wie etwa mit dem charismatischen, neoliberalen Islamistenführer Grün (Aleksandar Tesla), der auf geschickte Vermarktung von T-Shirts mit gerissenen Islam-Slogans schwört; oder dem Polit-Schnösel Herbert (Godehard Giese), einem manipulativen Journalisten in schwarzen Lederlackstiefeln. Beeindruckend facettenreich auch Nora Abdel-Maksoud in der Rolle der temperamentvollen Samt und abwechselnd in der des schüchternen Jungen Johann.

Wertfreier Erfahrungsraum

Was anfangs sehr ernst und beklemmend anmutet, wird immer wieder mit menschlichen Unzulänglichkeiten oder Situationskomik aufgeheitert. Sowohl die Ignoranz der gegnerischen Fronten, als auch die sich eingeschlichene Voreingenommenheit und Passivität des eigentlich apolitischen und nicht involvierten Protagonisten werden köstlich karikiert. Mican und seiner virtuosen Truppe gelingt es anhand von mikrokosmischen Beziehungsgeflechten die absurde zwischenmenschliche Dialogunfähigkeit aufgrund von (angenommener?) Verschiedenheit religiöser/ethnischer Natur fühlbar zu machen. Und nicht jedes Theaterstück, insbesondere Theater mit aktuellem Realitätsbezug, so scheint es, schafft es über die Behauptung oder Kritik hinaus einen individuellen und wertfreien Erfahrungsraum zu öffnen. (Text: Kathrin Blasbichler; Fotos: Fernando Miceli)

schnee_1Kurz-Infos:
Schnee von Hakan Savaş Mican und Oliver Kontny
Basierend auf dem gleichnamigen Roman von Orhan Pamuk
Bewertung: @@@@

 Kritik zur Aufführung am 8.2.2012 in der Garage X