Mit "L'ile de Tulipatan" und "Ba-ta-clan" startete die Wiener Kammeroper am 1. Oktober 2009 mit zwei rasanten, kurzweiligen, und zudem selten gezeigten Offenbachiaden in die neue Saison. Ein großer Abend für Menschen mit Humor. Man weiß ja: Manche haben ihn und manche haben ihn nötig.
Jacques Offenbach (1819 – 1880) gilt als der Schöpfer der eigentlichen Operette, die durch Singspiele und leichte komische Opern zwar hinlänglich vorbereitet war, aber als Gattung noch nicht bestand. Am 5. Juli 1855 eröffnete Offenbach in Paris seine kleine Bühne "Les Bouffes Parisiens" mit mehreren kleinen heiteren Stücken - und genau dieses Datum gilt heute als die Geburtsstunde der modernen Operette. Seine Operetten sind freilich auch als ein Kind ihrer Zeit zu sehen mit Napoleon III. als Herrscher einer französischen Gesellschaft. Zudem veränderte sich das kulturelle Klima der Metropolen im Sinne einer zunehmenden Modernisierung und Internationalisierung der bürgerlichen Lebensformen, wofür die Weltausstellungen (erstmals 1851 in London; 1855 in Paris) geradezu symptomatisch sind. Eine Zeit also, die, auch aufgrund der labilen Strukturen des Zweiten Kaiserreichs in Frankreich, in der Literatur und im Theater für viele Themen sorgten und generell ein Quell von Bosheit und Ironie waren. Wirbelnd spritzige Rhythmen, einprägsame Melodiebildungen und Temposteigerungen ohne Ende waren Offenbachs musikalische Stilmittel mit Texten die dort ansetzten wo andere mit ihrer Ironie nicht mehr weiter wussten.
Ohne Altershürden ins Heute
Der kurzweilige und überaus amüsante Abend in der Kammeroper begann mit dem Einakter "Die Insel Tulipatan", einer ironischen Abrechnung über die Klischees der Geschlechterrollen. Das Herzogtum Tulipatan mit ihrer bornierten und selbstgefälligen Gesellschaft liegt - wie wir alle wissen, wenn wir das Programmheft zur Hand nehmen - als kleine Inselgruppe in einem der Weltmeere, die Handlung selbst setzt exakt 473 Jahre vor Erfindung des Spucknapfs ein. Herzog Cacatois (fulminant, Andreas Jankowitsch) hoffte nach seinen zwei Töchtern nun endlich einen Thronerben zu bekommen, aber nein, wieder war es ein Mädchen. Dies allerdings verheimlichte man ihm, indem man das Mädchen in Knabenkleidung steckte. Doch wie man weiß machen Kleider nicht immer Leute und so wurde aus dem vorgetäuschten männlichen Thronerben Alexis (hervorragend, Milena Gurova) ein schüchterner und bescheidener Mensch. Umgekehrt verhält es sich mit dem gleichzeitig geborenen Knaben Hermosa (exzellent, Jeroen de Vaal), der als Mädchen getarnt wird, damit dieser nicht eines Tages zum Militär muss. Das Leben als Lüge, Identifikation als Täuschung - Offenbach begegnet diesen absurden Illusionen und dem Aufzeigen unbequemer Wahrheiten mit einer Rasanz und einem Humor, der keineswegs altbacken oder überholt ist. Angetrieben von einem Erzähler (mehr als beachtlich, Benjamin Prins), dessen trockener Humor das Stück enorm bereichert. Generell übrigens ein Humor, der den Weg ohne Altershürden ins Heute fand und der einem, berauscht von der hohen musikalischen Qualität, dies freilich auch dank eines unglaublich motivierten Ensembles unter der musikalischen Leitung von Daniel Hoyem-Cavazza, in die Pause entließ.
Happy Birthday China!
Kann man dem noch etwas draufsetzen oder wäre vielleicht ein Einakter ausreichend ob der hohen Qualität und der Kurzweil von "L'ile de Tulipatan"? Sollte jemand derart Bedenken in der Pause gehegt haben, wurden diese Zweifel rasch beseitigt. Das muss man nämlich einfach gesehen haben, wie sich "Ba-ta-clan", diese "Chinoiserie musicale" von Jacques Offenbach, die im zweiten Teil des Kammeroper-Abends zu sehen und zu hören war, entwickelt und wie dieser Einakter vorangetrieben bzw. vorangepeitscht wird. Ganz wichtig auch hier der Erzähler Benjamin Prins, der, unter Einbeziehung der Übertitel, sein komödiantisches Talent ausspielen darf. Das Stück spielt im Königreich Ché-i-no-or vor der großen Revolution - erstmals in Wien wurde es übrigens im Oktober 1860 unter dem Titel "Tschin-Tschin" gezeigt, mit Johann Nestroy in einer seiner letzten Bühnenrollen. Nestroy ist auch gewissermaßen das Stichwort, weil diese Offenbachiade nicht mehr und nicht weniger als eine völlig überdrehte politische Satire über das Publikum hinwegfegte. Und auch hier gelang Offenbach der zeitlose Moment, die Ventilöffnung zur Lächerlichmachung der politischen Kaste - in den Übertiteln wurde demgemäß und folgerichtig auch auf die österreichische Innenpolitik Bezug genommen. Dass sich die Verhältnisse nicht wesentlich verändert haben (was war und was blieb ist Machtgeilheit, Geldgeilheit, Freunderlwirtschaft, Korruption) muss man leider zur Kenntnis nehmen. "Ba-ta-clan" ist ein Revolutionslied, das zu singen bei Strafe verboten ist, und das Stück selbst handelt von Politikern, die die Sprache der Bevölkerung nicht beherrschen und sich von daher eines unsinnigen Pseudo-Chinesisch bedienen (China, so nebenbei, wird denn auch zum Geburtstag gratuliert). Beide Stücke erwiesen sich summa summarum als fast ebenbürtig; Tulipatan ist vielleicht als Ganzes homogener, musikalisch und gesanglich treffsicherer, das erste Drittel von Ba-ta-clan ist dafür eine Extraklasse für sich. Besonders hervorzuheben ist auch das Bühnenbild von Duncan Hayler. Hier steht nicht nur alles Kopf, sondern überzeugt auch mit unglaublichem Detailreichtum. Ein Bühnenbild eines Meisters, von dessen Kreativität sich einige (auch große, zu Tode subventionierte) Theaterhäuser lernen sollten. Zum Brüllen komisch. Unbedingte Empfehlung. (Text: Manfred Horak; Fotos: © Christian Husar)
Kurz-Infos:
Jacques Offenbach - L'île de Tulipatan & Ba-ta-clan
Bewertung: @@@@@@
Wiener Kammeroper
Aufführungen in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Musikalische Leitung: Daniel Hoyem-Cavazza
Inszenierung: Waut Koeken
Choreographie: Ferdinando Chefalo
Ausstattung: Duncan Hayler
Lichtdesign: Glen D’haenens
Narrateur: Benjamin Prins
L’ île de Tulipatan: Opéra-bouffe en un acte
Libretto: Henri Ch. Chivot & Alfred Duru
Cacatois: Andreas Jankowitsch
Romboidal: Dan Chamandy
Alexis: Milena Gurova
Theodorine: Lisa-Maria Jank
Hermosa: Jeroen de Vaal
Libretto: Ludovic Halévy
Fe-Ni-Han: Dan Chamandy
Ke-Ki-Ka-Ko: Jeroen de Vaal
Ko-Ko-Ri-Ko: Andreas Jankowitsch
Fe-An-Nich-Ton: Milena Gurova
Chœur: Solmaaz Adeli, Rumen Dobrev,
Christian Normann Larsen, Henrik Simunkovic, Magdalena Singer
Orchester der Wiener Kammeroper