Vier Muezzine und ein Elektriker aus Kairo präsentieren in "Radio Muezzin" von Stefan Kaegi (Rimini Protokoll) ein Bild des Alltags in der ägyptischen Hauptstadt. Sie sagen immer die Wahrheit und schweigen über den Rest. Trotz Zurückhaltung und Kompromissen bekommen wir einen Einblick in eine andere Kultur mit dem Selbstverständnis des täglichen Lebens ohne repräsentativen Firlefanz. Zu sehen beim Steirischen Herbst im arabischen Original mit deutschen und englischen Übertiteln.
Der Steirische Herbst kündigte die Österreich-Premiere mit 42% Theater, 41% Realität und 17% Gebetsaufruf an, wobei: Die 17% bestimmen die anderen 83%. Die Bühne ist mit einem großen Gebetsteppich ausgelegt. Auf den Leinwänden im Hintergrund sieht man ins Innere der Moscheen. Von allen Seiten tönt der Gebetsaufruf durch das Grazer Orpheum. In Kairo sind täglich 30.000 solcher Stimmen zu hören. Nicht mehr lange, dann soll die Kakophonie ein Ende haben und diese Arbeit fortan von 30 "Auserwählten" mit wohlklingender Stimme per Radiofunk übernommen werden. Wie das funktioniert führt der Elektriker Sayed Abdellatif Mohamed Hammad mit einem selbstgebastelten Sender vor.
Wer sind die Menschen hinter den Stimmen, die verschwinden werden?
Zwischen kleinen Demonstrationen ihrer täglichen Rituale, von Staub saugen bis hin zu Unterricht, Waschung und Gebet, erzählen die Muezzine aus ihrem Leben. Hussein, dem Gott nur ein Auge mit etwas Licht gesegnet hat, hört im Bus laut Radio, was niemanden stört, solange es der Koran ist. Abdelmoty hat jahrelang als Elektriker in der Fabrik gearbeitet. Seit er zwischen ein Auto und einen Minibus geraten ist, trägt er eine Metallscheibe und sieben Schrauben im linken Bein. Der Iman holte ihn vom Café in die Moschee. Jetzt übernimmt er dort ab und zu den Gebetsruf. Mohamed hingegen ist offiziell geprüfter Muezzin. Weil das Land seines Vaters zu klein war, ging er nach Kairo. Dort lebt er heute von 180 ägyptischen Pfund (ca. 20 €) im Monat. Die restlichen 580 Pfund schickt er an die Familie. Seine beiden Kinder sieht er nur alle zwei Monate. Die Gebetsaufrufe bestimmen den Tagesablauf der Muezzine. Die Zeiten dafür sind vom Stand der Sonne abhängig. Alexandria liegt fünf Minuten vor Kairo. Für die korrekte Einhaltung der Zeiten gibt es elektrische Gebetstafeln, die heute - wie so vieles - in China gefertigt werden. Man kann selbstverständlich auch in der Zeitung oder im Internet nachlesen. Für die Mobiltelefone gibt es längst eigene Applikationen.
Ein Sessel bleibt leer.
Er gehört Sheikh Mansour, Vizeweltmeister im Koranlesen und "Auserwählter". In seiner Moschee versammeln sich jeden Freitag 15 - 20.000 Muslime zum Gebet. Im Fotoalbum sieht man ihn Seite an Seite mit Staats- und Regierungschefs aus aller Welt. Privat stemmt er Gewichte. Der soziale Unterschied führte zu unüberwindbaren Spannungen im Ensemble. Er ist auf der Tournee nicht mehr dabei. In Graz wird sein Text vom Regieassistenten Dia' gelesen. Die Experten des Alltags hat Stefan Kaegi diesmal über ein Casting mit Hilfe des Goethe-Instituts gefunden. Das Religionsministerium hätte es lieber gesehen, wenn er nur mit den "Auserwählten" gearbeitet hätte. So muss jedes Gastspiel neu verhandelt werden und ein Vertreter des Ministeriums reist immer mit.
Theater in unserer Form gibt es in Ägypten nicht.
Schauspiel gilt als falsch und verträgt sich nicht mit dem Koran. Aber hier wird nicht gespielt und solange die Wahrheit gesprochen wird, hat alles auch für Menschen mit einem religiösen Job seine Ordnung. Die Muezzine wussten anfangs nicht, dass aus ihren Gesprächen mit Stefan Kaegi von Rimini Protokoll ein Theaterabend werden sollte. Der Erfolg der Produktion freut sie sehr und sie hoffen, den Menschen dadurch den Koran näher zu bringen. Das ist ihnen auf sehr angenehme Weise gelungen. Manch anderes blieb dabei leider auf der Strecke. Und so ist es doch mehr ein Abend über den Islam als ein Portrait von Kairo. (Text: Christine Koblitz; Fotos: Wolfgang Silveri)
Infos zum Stück:
Radio Muezzin
Bewertung: @@@1/2
Spielort: Festivalzentrum im Orpheum im Rahmen vom Steirischen Herbst
Konzept und Regie: Stefan Kaegi / Rimini Protokoll
Mit: Abdelmoty Abdelsamia Ali Hindawy, Hussein Gouda Hussein Bdawy, Mansour Abdelsalam Mansour Namous, Mohamed Ali Mahmoud Farag, Sayed Abdellatif Mohamed Hammad & Dia´Deen Helmy Hamed
Eine Produktion von HAU Berlin und Goethe-Institut Ägypten.
In Koproduktion mit Athens Festival, Bonlieu Scène nationale Annecy, Festival d’Avignon, steirischer herbst festival (Graz) und Zürcher Theater Spektakel.