Die Theater der Städte Freiburg und Heidelberg werden in der Spielzeit 2009/2010 ärmer, denn der Choreograph der beiden Häuser, Joachim Schlömer, wechselt nach St. Pölten in Niederösterreich. Er übernimmt dort im September 2009 die Leitung des Festspielhauses. Sein neues Stück "in schnee" feierte auf dem Lucerne Festival Musiktheater im August 2008 Premiere und leitet nun die neue Theatersaison ein.
Ein Video zeigt Schnee auf einer Landschaft voller Felsenspitzen. Hin und wieder wird der Eindruck von Kälte und der Härte der Felsspitzen und der Schönheit der Weite unterbrochen vom Flimmern des fotografischen Nichts. Der technische Schnee stellt sich zwischen zwei scheinbar klare Bilder, er untersagt Eindeutigkeit und Erkenntnis und verweist immer auf eine Fehlfunktion oder den Tod. Bis das Leben, also das Bild der Landschaft wieder da ist. In Schlömers Stück "in schnee" durchziehen diese beiden Zustände – Fehlfunktionen (Tod) und Versuche einer Wiederherstellung (Verdrängung/Leben) – den Tanz, das Bühnenbild, die Requisiten und die Musik. Thomas Manns Zauberberg gab die Anregung für das Stück. Im Kapitel "Schnee" gerät die Romanfigur Hans Castorp in einen lebensbedrohlichen Schneesturm und fällt, geschützt durch einen Heuschober, erschöpft in Schlaf. Im Traum sieht er zwei Szenen: Erst eine schöne mit Sonne, Strand und Meer und Menschen, die sich rücksichtsvoll begegnen; dann im Hintergrund zwei grässliche Hexen, die ein Kind über flackerndem Feuer zerreißen und fressen.
Janusköpfige Spannung "in schnee"
Schlömers "in schnee" ist in dieser janusköpfigen Spannung gehalten. Im Mittelpunkt steht die an Castorp angelegte Figur C., die der Tänzer Daniel Jaber mit einer subtilen Zurückhaltung vertanzt, die jeder Zeit angreifbar ist. Etwa wenn eine fordernde weibliche Figur seinen Körper durchforstet. Paea Leach tanzt die Rolle der Verführerin im Sinne des Wortes eindringlich. Ihr Körper versucht C. unter die Haut zu gehen. Dabei entstehen skurrile Bewegungsmuster, etwa wenn Leach ihren Kopf unter Jabers Hemd vergräbt und der Tänzer mit Vorsicht die neue Ausbuchtung seines Körper umarmt. An anderer Stelle greift sie ihm aus vollen Armen in die Ärmel seines Mantels und eignet sich unaufgefordert seine Nähe an. Immer wieder hat C. gegen die Schatten derartiger Figuren zu kämpfen. Sie beherrschen im Verlauf des Stücks als raumgreifende Gruppe den grandiosen Bühnenraum. Mit rohen Holzbalken hat die Bühnenbildnerin Mascha Mazur einen robusten Unterstand gebaut, dessen Kraftraum im Kontrast zum gespaltenen und von Wahnbildern gepeinigten Tanz Jabers steht. Ihn zerren die Figuren – eine von Su-Mi Jang sportlich getanzte Seilchen springende Turnerin, eine überkorrekte harte, aber später verwandelte Anstandsdame, die Maria Pires in ihrem wandlungsfähigen Tanz eindrucksvoll gibt sowie der zeitweise an einen Torero erinnernde Tanz von Clint Lutes, der in rotem Anzug oder in roter Unterwäsche für einen aggressiven Machismo im Gruppenbild sorgt. Eine weitere Figur rundet das Ensemble auf beunruhigende Weise ab. Thomas Jeker ist der Spielball, an dem sich etwa der Tanz von Maria Pires abreagieren kann. Sie zwingt ihn in die Knie und in die Jacke, so dass seine Arme gestutzt und bewegungsunfähig im Ärmel verkeilt sind. Später wird diese Figur von Beulen geplagt, sein Körper noch sperriger und am freien Gang gehindert. Jeker hat neben seiner Angstbeulen-Rolle auch für das akustische Pendant zum Schnee der Bildstörung im Video gesorgt. Seine elektronischen Klänge löschen für Momente die aufeinander geschichteten Töne der Cello-Suiten von Johann Sebastian Bach. Sie verweisen den Klangraum zurück auf einen eisigen Nullpunkt.
Von der Komplexität der musikalischen Läufe
Schlömer sieht die Cello-Suiten von Bach eng mit dem Schnee-Kapitel von Thomas Mann verbunden. Die Verschichtung der Töne steht parallel zum Schneegefängnis, in das Castorp bei Mann gerät. Nach fast drei Stunden Spielzeit haben sich die sechs Bach-Suiten in die Hirnwindungen der Zuhörer eingespeist. Schlömer spricht im Programmheft von der Komplexität der musikalischen Läufe, die uns gefangen nehmen. "Das hat etwas Grausames, dem man als Zuhörer ausgeliefert ist..." Vielleicht verhindert aber gerade der Tanz diese vollständige Vereinnahmung durch die Musik. Im letzten Teil von Schlömers "in schnee" verharren die Tänzer still in gelben Einheitskostümen. Ihre ursprünglichen Charakterrollen geistern ebenfalls auf der Bühne, in Form von in der Bewegung eingefrorenen Pappkameraden. Jetzt erst entfaltet der Sog der Musik, die fünfte und sechste Cello-Suite von Bach, ihre ganze raumgreifende Macht. "Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.", schreibt Thomas Mann im Kapitel "Schnee" vom Zauberberg und setzt diese Aussage als einzige kursiv. Während Castorp ins Leben zurückkehrt und sich aus den Fängen von Kälte, Tod und Wahn befreit, verharrt Schlömers C. in den Traumgebilden seiner Alter Egos. Die Musik führt als letzte die Bewegung von "in schnee" zu Ende. //
Text: Nora Abdel Rahman
Bild 01: Das Ensemble in Einheitsgelb mit Pappkameraden-Konterfeis.
Bild 02: Maria Pires zeigt ihre Kunst am Stuhl und ist jeder Zeit bereit ihm geschmeidig zu entgleiten.
Bild 03: Daniel Jaber im Tanz mit Verführerin Paea Leach
Link-Tipp:
Joachimschloemer.com