Viele Fragen wurden aufgeworfen, einige beantwortet. Die dringlichste Frage, die sich nach spätestens 20 Minuten einstellte war: Was ist der Sinn einer neu geschriebenen "Zauberflöte"?
Mr. Sarastro, der wie eine Mischung aus Berlusconi und einem Nazischergen im weißen Anzug und braunen Stiefeln daherkommt, stellt zu Beginn von "Zauberflöte 06" eine Assoziation zu Canettis "Masse und Macht" her, dessen Philosophieren die Massen und Mächtigen auf einen singularischen Begriff brachte. Anders formuliert: Der Auftakt war verheißungsvoll, bis es sich in Skurrilität wandelte. Die Königin der Nacht, dargestellt von Gerhard Karzel, war ein alter Mann mit eingesetzten Infusionsschläuchen und der Vogelhändler ein "Augustin"-Zeitungsverkäufer. Von der Mozartschen "Zauberflöte" blieben einige wenige eingespielte Fragmente, die Thomas Pernes musikalisch weiterführte. Nur leider blieb seine Originalmusik undurchsichtig, schlimmer noch, nebensächlich, ohne großen Melodien.
Was ist der Sinn einer neu geschriebenen Zauberflöte?
Damit das Wiener Mozartjahr von sich behaupten kann, es sei, ach!, so originell?
Die originale "Zauberflöte" ist eine Societyhochzeit als Gender-Abenteuer-Biathlon quer durch Freimaurerrequisiten mit mehrfacher politischer Unkorrektheit, Diskriminierung der Frau inklusive - und dennoch unbestritten ein musikalisches Meisterwerk. "Zauberflöte 06" ist Collagenmusik und Cross-Over mit heutzutage obligaten Sex- und Gewaltszenen, in der Tamino in die Welt des Mr. Sarastro gerät, und hier wiederum zunehmend mehr in den Sog dessen seltsamer gewaltbereiter Swingerveranstaltung (äh - zumindest wirkte die Szenerie des Gezeigten so auf mich; vielleicht war es ja auch nur eine ganz normale Verkaufsveranstaltung zur Erreichung neuer Abonnenten, nur halt krass überspitzt dargestellt - oder tatsächlich, wie im Pressetext beschrieben, "eine opulente Businessparty eines mächtigen Wirtschaftstycoons").
Prügelszenen & Zombietänze
Bleiben wir gleich beim Pressetext, damit an dieser Stelle auch über die Wahrheit von "Zauberflöte 06" geschrieben wird und nicht nur über das subjektive Empfinden der Wirklichkeit, nach dem Ende der zweistündigen Aufführung: "Regisseur Andreas Leisner und Ausstatter Walter Schütze rücken die Problematik des Individuums, das sich in seinem Umfeld nicht mehr zurechtfindet, und die Perversion des Pseudo-Humanismus der heutigen Führungseliten in den Mittelpunkt der Inszenierung. Das Geschehen entwickelt sich rund um die Frage nach den menschlichen Grundwerten in einer kapitalistisch genormten Gesellschaft, in der die Bewahrung von Identität die größte Bewahrungsprobe ist."
Wow, klingt verdammt gut und macht neugierig auf das Stück, mehr noch, die Erwartungshaltung ist dadurch nicht gerade klein. Nun, dass drei Boys (dargestellt von Frauen) Tamino zunächst blutig schlagen, er in weiterer Folge deren Vorgesetzter wird, und dass die Gäste der "opulenten Businessparty" zombiehaft tanzen (wer sich an das Video von Michael Jacksons "Thriller" erinnern kann, weiß was ich meine), mag menschliche Grundwerte der Gegenwart mehr oder weniger plausibel darstellen, war mir aber eindeutig zu wenig, wenn sich das Geschehen in "Zauberflöte 06" nur dahingehend reduziert, denn viel mehr bleibt leider nicht hängen vom Libretto von AutorIn Gloria G. (aka Klaus Khittl), ausgenommen noch die blanke menschliche Verwüstung am Ende der Neuen Oper. Sarastro tötet Pamina. Tamino tötet Sarastro. Tamino bleibt alleine zurück. Alleine? Nein. Den Augustin-Zeitungsverkäufer gab es nämlich auch noch. Und: Eine eingespielte Botschaft Sarastros erklärte daraufhin die Oper - Pardon: sein System - für gescheitert. (Text: Manfred Horak; Fotos: Armin Bardel)
Festivalaufführung:
Internationales Musiktheaterfestival Bratislava (4. Juni 2006)
Zauberflöte 06 ist ein Auftragswerk und eine Koproduktion von Wiener Mozartjahr 2006